Empörungskultur im Sport – Zwischen Sensibilität und Resilienzverlust

Ein Essay von Christian Wulf, Präsident des Landes-Kanu-Verbandes Niedersachsen e. V.
Berlin 24.10.25

Der Sport spiegelt den Zustand einer Gesellschaft oft deutlicher wider, als man auf den ersten Blick ahnt. Was sich im öffentlichen Leben zeigt – eine ständige Empörungsbereitschaft, das Misstrauen gegenüber Führung und der Reflex, Fehler moralisch zu bewerten – dringt auch in Vereine und Verbände ein. Empörung ersetzt Argument, Sensibilität verdrängt Resilienz. Besonders im Kanusport, wo Nähe, Vertrauen und Gemeinschaft eigentlich zu den Grundwerten gehören, wird diese Entwicklung spürbar. Sie führt zu blockierten Debatten, verunsicherten Trainern, vorsichtigen Funktionären und einer spürbaren Lähmung in der Zusammenarbeit.

Sport lebt von Emotion. Leidenschaft, Ehrgeiz und Begeisterung gehören zum inneren Motor des sportlichen Geschehens. Doch dieselben Kräfte, die im Wettkampf beflügeln, können in der Kommunikation zerstörerisch wirken. In den vergangenen Jahren hat sich eine Empfindlichkeit ausgebreitet, die kaum noch Raum für Unvollkommenheit lässt. Ein unbedachtes Wort, eine scharfe Formulierung oder eine missverständliche Entscheidung genügen, um ganze Wellen der Empörung auszulösen. Was früher intern besprochen und geklärt wurde, wird heute sofort öffentlich verhandelt. So entsteht eine Atmosphäre ständiger Beobachtung, in der viele lieber schweigen als handeln.

Im Alltag zeigt sich das sehr konkret. Ein Trainer analysiert nach einem Lauf nüchtern: „Das war schlecht gefahren, du warst zu passiv am Tor.“ Für ihn ist es eine sachliche, fachlich begründete Rückmeldung. Für den Sportler oder seine Eltern klingt es jedoch hart, vielleicht respektlos. Noch bevor das Gespräch gesucht wird, beginnt die Diskussion in Chatgruppen. Andere mischen sich ein, und bald wird nicht mehr über Technik gesprochen, sondern über Tonfall und Haltung. Eine zehnminütige Videoanalyse verwandelt sich in eine wochenlange Klärung.

Ähnlich verlaufen Prozesse in der Verbandsarbeit. Wird das Budget zugunsten des Leistungssports verschoben, entsteht aus einer nüchternen Prioritätensetzung ein moralischer Konflikt. Anstatt über Zahlen und Ziele zu sprechen, wird gefragt: „Wem liegt der Nachwuchs wirklich am Herzen?“ Die Sachebene verschwindet hinter Emotionen. Selbst kleine sprachliche Ungenauigkeiten – eine unglückliche Formulierung in einem Rundschreiben oder eine missverständliche Bemerkung in einem Protokoll – können über soziale Medien zu Symbolen für vermeintliche Ungerechtigkeit werden. Dann dominiert Deeskalation, nicht Gestaltung. Energie, die eigentlich in Projekte fließen sollte, wird in Rechtfertigungen gebunden.

Diese Mechanismen folgen einer klaren Logik. Empörung personalisiert Konflikte und beschleunigt sie digital. Sie macht aus Meinungsverschiedenheiten Charakterfragen und verwandelt Diskussionen in Urteile. Kommunikation wird zum Mittel sozialer Selbstvergewisserung – nicht mehr zur Lösung von Problemen. Aus dem „Wir reden miteinander“ wird ein „Wir bewerten einander“.

Die Ursachen dieser Entwicklung sind vielfältig. Zunächst hat die Digitalisierung eine Kommunikationsform geschaffen, die Aufregung belohnt. Plattformen leben von Aufmerksamkeit, und Aufmerksamkeit entsteht durch starke Emotionen. Jede Aussage, jeder Beschluss, ja selbst ein Halbsatz kann heute öffentlich werden. Wer Verantwortung trägt, weiß das – und reagiert entsprechend vorsichtig. Hinzu kommt ein Wandel der Werte und Sprache. Generationen, die in direkter, klarer Ansprache trainiert wurden, treffen auf Jüngere, die Wertschätzung und sprachliche Sensibilität erwarten. Was für die einen Offenheit ist, gilt den anderen als Unhöflichkeit. Diese Unterschiede sind menschlich, doch sie werden selten reflektiert.

Gleichzeitig wächst der Anspruch an Perfektion. Eltern erwarten pädagogische Makellosigkeit, Athleten individuelle Förderung, Funktionäre Transparenz und Fehlerfreiheit. In ehrenamtlichen Strukturen, in denen Zeit, Ressourcen und Personal begrenzt sind, ist das kaum leistbar. Jeder Fehler, jede Ungenauigkeit wird zum Anlass, Vertrauen infrage zu stellen. Hinzu kommt die enge Struktur des Kanusports. Man kennt sich über Jahre, oft über Generationen hinweg. Nähe schafft Vertrautheit, aber auch Verletzlichkeit. Kritik trifft nie nur ein Amt, sondern immer eine Person.

Ein weiterer Punkt ist die fehlende Konfliktkompetenz. Viele Trainer und Funktionäre sind fachlich hervorragend ausgebildet, aber kaum auf den Umgang mit emotional aufgeladenen Situationen vorbereitet. Ambiguitätstoleranz – die Fähigkeit, Widerspruch und Mehrdeutigkeit auszuhalten – ist selten Teil der Ausbildung. So entsteht ein System, das auf Belastung empfindlich reagiert. Verantwortliche handeln defensiv. Entscheidungen werden aufgeschoben oder so vorsichtig formuliert, dass sie jede Klarheit verlieren. Der „Shitstorm im Kleinen“, die Angst vor öffentlicher Empörung, ersetzt nüchterne Führung.

Die Folgen sind sichtbar. Immer mehr Ehrenamtliche ziehen sich zurück, weil sie das Gefühl haben, es niemandem recht machen zu können. Diejenigen, die bleiben, sprechen vorsichtiger, wägen jedes Wort ab und vermeiden Risiken. Sprache wird formelhaft, Distanz ersetzt Vertrauen. Trainer verlieren Autorität, weil sie sich selbst zensieren. Sportler hören weniger klare Ansagen und mehr diplomatische Formulierungen, die zwar freundlich klingen, aber wenig bewirken. Das Teamgefühl leidet, weil Kritik als Angriff empfunden wird und Rückmeldungen als Kränkung. So erodiert der Gemeinschaftssinn, der eigentlich den Kern des Sports bildet. Wo früher klare Ansprache und gegenseitiges Vertrauen herrschten, entsteht Unsicherheit. Der Mut zum Experimentieren geht verloren.

Gleichzeitig verflacht die Lernkultur. Wenn Fehler moralisch bestraft werden, statt als Teil des Trainings verstanden zu werden, nimmt die Innovationsfähigkeit ab. Trainer zögern, Neues auszuprobieren. Verbände vermeiden Entscheidungen, die anecken könnten. Eine Kultur der Vorsicht tritt an die Stelle einer Kultur der Weiterentwicklung.

Gerade der Kanusport bietet eigentlich das perfekte Gegenmodell. Kaum eine Sportart verbindet technische Präzision, Risiko und mentale Stärke so eng. Kein Lauf ist fehlerfrei. Jeder, der auf einem Wildwasserkanal unterwegs ist, weiß, dass Scheitern dazugehört. Wer kentert, steht auf, steigt wieder ein und versucht es erneut. Diese Haltung, die im sportlichen Alltag selbstverständlich ist, sollte auch für Kommunikation und Organisation gelten. Fehler sind kein Makel, sondern Material, aus dem Fortschritt entsteht. Resilienz wächst aus der Fähigkeit, Rückschläge auszuhalten und sie produktiv zu nutzen.

Eine solche Haltung entsteht jedoch nicht von selbst. Sie muss bewusst gepflegt werden. Resilienz beginnt mit der Einsicht, dass Fehlertoleranz keine Schwäche ist, sondern eine Voraussetzung für Stärke. Kritik sollte der Verbesserung dienen, nicht der Bewertung von Personen. Statt vorschnell öffentlich zu reagieren, braucht es Zeit für Reflexion und Klärung. Kommunikation muss wieder als Lernfeld verstanden werden – wie Technik oder Taktik. Wer ein Boot präzise steuern will, trainiert Bewegungsabläufe; wer eine Organisation steuern will, muss Gesprächsführung, Konfliktfähigkeit und Ruhe trainieren.

Vereine und Verbände sollten Räume schaffen, in denen offen gesprochen werden kann, ohne Angst vor öffentlicher Verbreitung. Eine „offene Werkstatt“ für Themen, regelmäßige interne Dialogrunden oder moderierte Feedbackgespräche können helfen, Spannungen zu lösen, bevor sie eskalieren. Geschäftsordnungen könnten kurze Pausen vorschreiben, bevor sensible Mitteilungen verschickt werden – ein einfaches „Cooling-off“ von 24 Stunden verhindert oft mehr Schaden als lange Sitzungen. Ebenso braucht es eine klare Medienethik: keine personenbezogenen Diskussionen auf öffentlichen Kanälen, keine Weitergabe interner Kommunikation. Verbände, die dies verbindlich regeln, schaffen Vertrauen.

Führung spielt dabei eine entscheidende Rolle. Gelassenheit ist eine Form der Autorität. Wer ruhig bleibt, wenn andere laut werden, sendet ein Signal von Stabilität. Führungskräfte sollten weniger kommentieren und mehr erklären. Entscheidungen brauchen Transparenz – nicht, um sich zu rechtfertigen, sondern um nachvollziehbar zu sein. Ziele, Kriterien und Alternativen sollten offen kommuniziert werden. Wenn Fehler passieren, reicht ein kurzer, klarer Hinweis auf Verantwortung und Korrektur. So entsteht Glaubwürdigkeit, keine Defensive.

Resilienz zeigt sich im Verfahren, nicht in der Rhetorik. Strukturen, die Eskalationsstufen klar benennen, helfen, Konflikte systematisch zu lösen. Eine einfache Abfolge – Trainer, sportliche Leitung, Vorstand, Verband – schafft Orientierung. Ebenso hilfreich ist eine Konflikt-Checkliste, die vor jeder Veröffentlichung geprüft wird: Was ist das Ziel, wer ist betroffen, welche Folgen hat es? Solche Routinen schützen vor Überreaktionen und halten Prozesse ruhig. Ein jährlicher „Resilienz-Check“, in dem Teams gemeinsam reflektieren, was funktioniert hat und was verbessert werden muss, stärkt die Lernfähigkeit einer Organisation.

Auch im konkreten Trainingsalltag lassen sich diese Prinzipien anwenden. Wenn ein Trainer Technik-Feedback gibt, kann er es klar strukturieren: Beobachtung, Ursache, Korrektur, Übung. Anstelle allgemeiner Urteile treten präzise Hinweise, die Leistung fördern, ohne zu verletzen. Bei Kadernominierungen schafft Transparenz Vertrauen. Kriterien und Fristen sollten bekannt sein, Entscheidungen sachlich begründet, Rückmeldungen individuell gegeben werden. Haushaltsentscheidungen profitieren von klaren Entscheidungsbäumen und vorheriger Information. Und in Krisensituationen hilft eine einfache Struktur: die Fakten benennen, Verantwortung übernehmen, Maßnahmen erklären, Zeitplan nennen, nächsten Schritt ankündigen. Keine Schuldzuweisungen, keine Übertreibungen – stattdessen Ruhe und Klarheit.

All diese Maßnahmen zielen auf dasselbe Ziel: eine Sportkultur, die Spannungen aushalten kann, ohne sie zu dramatisieren. Der Kern dieser Kultur ist Gelassenheit. Sie entsteht, wenn Fakten wichtiger werden als Emotionen, wenn Kritik nicht zur Demütigung führt und wenn Verantwortliche den Mut behalten, auch unbequeme Entscheidungen zu treffen.

Der Sport ist seit jeher ein Mikrokosmos demokratischer Kultur. Hier lernt man, Regeln zu akzeptieren, mit Autorität umzugehen, Konflikte auszutragen und am Ende die Hand zu reichen. Doch Demokratie funktioniert nur, wenn Menschen widersprüchliche Gefühle und Meinungen aushalten können. Wer jede Kränkung zum Skandal erhebt, verliert die Fähigkeit zur Debatte. Wer nur noch reagiert, verliert den Mut zur Gestaltung.

Der Kanusport kann zeigen, wie anders es gehen kann. Seine Werte – Fairness, Disziplin, Selbstbeherrschung – sind das genaue Gegenteil der Daueraufregung, die viele gesellschaftliche Bereiche erfasst hat. Wer paddelt, weiß: Kontrolle entsteht nicht durch Anspannung, sondern durch Balance. Dasselbe gilt für Kommunikation. Sensibilität ist wichtig, doch ohne Standfestigkeit wird sie zur Schwäche.

Wenn es gelingt, beides zu verbinden – Mitgefühl und Klarheit, Wachheit und Ruhe – dann kann der Sport wieder das werden, was er immer war: ein Raum, in dem Menschen wachsen, weil sie Fehler machen dürfen und daraus lernen. Empörung ist leicht. Gelassenheit ist Leistung. Und genau diese Leistung sollte der Sport wieder trainieren – auf dem Wasser, im Verein und in unseren Köpfen.