Der verzerrte Spiegel des Sports zwischen Schein und Realität – mediale Selbstinszenierung vorne, marode Infrastruktur und fehlendes Engagement im Hintergrund.
Ein Bericht von Christian Wulf, Präsident des Landes-Kanu-Verbandes Niedersachsen e. V.
Sichtbarkeit schlägt Wirkung, der Sport verliert Trainer, Räume und Vertrauen. Wie Nebenschauplätze den Sport lähmen.
Der Sport war immer ein Spiegel der Gesellschaft – ehrlich, ungeschminkt, manchmal schmerzhaft. Doch in den vergangenen Jahren hat sich der Spiegel verzerrt. Es wird immer intensiver über Sprache, Symbole und Formate gestritten, während zentrale Fragen – Nachwuchsgewinnung, Ehrenamt, Ausbildung, Infrastruktur, Wertevermittlung – in den Hintergrund treten. An die Stelle von Problemlösung tritt Selbstinszenierung. Der Sport diskutiert über Sternchen, während ihm die Trainer fehlen. Er schreibt Leitfäden über Diversität, während die Hallen marode sind. Er beschäftigt sich mit Form, wo Inhalt gefragt wäre.
Natürlich ist Sprache wichtig. Sie strukturiert Wahrnehmung und kann ausschließen oder einschließen. Aber sie ersetzt keine Handlung. Kein Verein wird durch neue Begriffe integrativer, keine Turnhalle barrierefrei, kein Kind vor Gewalt geschützt, nur weil Formulierungen geändert werden. Dennoch dominiert der Streit um Worte ganze Sitzungen, Anträge, Förderrichtlinien und Konferenzen. Energie, die eigentlich in Lösungen fließen sollte, wird in Symbolpolitik gebunden. Die Mechanik dahinter ist alt: Wo sich echte Probleme als komplex, langwierig und anstrengend erweisen, sucht man Ersatzkonflikte. Sie geben das Gefühl von Fortschritt, ohne Widerstände. Eine Satzungsänderung ist leichter als ein Hallenneubau. Ein Genderleitfaden schneller beschlossen als ein funktionierendes Nachwuchsprogramm. Es ist bequemer, Sprache zu kontrollieren als Verhalten zu verändern. So entsteht eine paradoxe Situation: Man spricht über Teilhabe, während immer weniger mitmachen. Man feiert Vielfalt, während der Kreis der Engagierten schrumpft.
Im organisierten Sport zeigt sich diese Entwicklung deutlich. Wer heute eine Sitzung eines Verbandes oder Vereins besucht, erlebt häufig eine Fülle von Formaldebatten. Ob eine Einladung geschlechtergerecht formuliert ist, wird ausführlicher besprochen als der Inhalt der Veranstaltung. Ob ein Trainerbericht gegendert ist, wichtiger genommen als die Frage, ob überhaupt noch Trainer vorhanden sind. Zwischen Absichtserklärung und Realität klafft eine Lücke. Und wer darauf hinweist, riskiert, als unsensibel zu gelten. Das Problem ist nicht der Wunsch nach respektvoller Sprache. Das Problem ist die Verschiebung der Prioritäten. Der Sport, einst ein Ort der klaren Ziele und der pragmatischen Umsetzung, verliert sich in Symbolhandlungen. Statt Strukturen zu verbessern, werden Formulierungen perfektioniert. Statt Lösungen zu bauen, werden Statements produziert. Eine neue Rhetorik tritt an die Stelle der Tat.
Diese Entwicklung hat tieferliegende Ursachen. Der gesellschaftliche Diskurs belohnt Empfindsamkeit stärker als Effektivität. Aufmerksamkeit gilt nicht mehr dem, der Probleme löst, sondern dem, der sie rhetorisch markiert. In sozialen Medien wird moralische Haltung höher bewertet als sachliche Kompetenz. Verbände und Vereine übernehmen diese Logik. Sie wollen zeigen, dass sie „modern“, „sensibel“ und „fortschrittlich“ sind – und übersehen, dass Fortschritt ohne Funktion keinen Wert hat. Dabei ist Sport im Kern etwas anderes: Handeln, Leistung, Begegnung. Bewegung, nicht Bekundung. Sport ist der Versuch, aus Unterschiedlichkeit Gemeinsamkeit zu machen – nicht durch Worte, sondern durch Tun. Auf dem Wasser, im Stadion, in der Halle zählen Einsatz, Können, Fairness, Teamgeist. Diese universellen Werte brauchen keine grammatische Dekoration. Sie müssen gelebt, nicht beschrieben werden.
Ein Beispiel: Viele Vereine investieren inzwischen mehr Zeit in die sprachliche Prüfung ihrer Kommunikationsmittel als in die Ausbildung junger Übungsleiter. Gleichzeitig klagen dieselben Organisationen über Überalterung, Nachwuchsmangel und sinkende Verbindlichkeit. Der Widerspruch ist offensichtlich – und doch wird er selten benannt. Wer es tut, gilt schnell als rückwärtsgewandt. Der Diskurs selbst wird zum Dogma, das keine Rückfrage zulässt. Das Ergebnis ist eine zunehmende Entkoppelung von Sprache und Wirklichkeit. Während das offizielle Selbstbild des Sports progressiv erscheint, bleibt die Praxis vielerorts traditionell – und überfordert. Eine Kinderschutzrichtlinie ist beschlossen, aber keine Vertrauensperson ausgebildet. Eine Inklusionsstrategie steht auf dem Papier, aber die Halle hat keine Rampe. Es fehlt an Menschen, Material, Zeit – nicht an Erklärungen.
Der Preis dieser Verlagerung ist hoch. Sie zerstört das Vertrauen in Führung, weil sie Authentizität ersetzt durch Formalität. Wer den Eindruck hat, dass Gremien mehr über Form als über Wirkung sprechen, wendet sich ab. Ehrenamtliche fühlen sich alleingelassen, Trainer unverstanden, Mitglieder genervt. Die Distanz zwischen Basis und Funktion wächst – nicht aus bösem Willen, sondern aus Überforderung.
Die Lösung liegt nicht in einem Rückfall in alte Sprachmuster, sondern in der Wiedergewinnung von Priorität. Sprache soll Werkzeug sein, nicht Thema. Sie soll ermöglichen, nicht ersetzen. Das erfordert eine Kultur der Klarheit: Was wollen wir erreichen, und was hilft wirklich dabei?
Wenn ein Verband beschließt, seine Kommunikation zu überarbeiten, sollte er zuerst fragen: Welche Probleme lösen wir dadurch? Verstehen uns dadurch mehr Menschen? Werden dadurch Barrieren abgebaut oder nur Begriffe verschoben? Eine einfache Regel kann helfen: Jede sprachliche Änderung braucht eine praktische Wirkung. Wenn sie keine hat, ist sie Beschäftigungstherapie. Diese Klarheit gilt auch für andere symbolische Themen. Nachhaltigkeit, Diversität, Fairness – alles wichtig. Aber entscheidend ist die Umsetzung, nicht das Logo. Wer Nachhaltigkeit ins Leitbild schreibt, aber weiterhin Materialien wegwirft, produziert Greenwashing. Wer Diversität fordert, aber keine Jugendtrainer gewinnt, die Kinder verschiedener Herkunft tatsächlich betreuen können, bleibt in der Pose.
Der organisierte Sport leidet nicht an Mangel an Programmen, sondern an Mangel an Konsequenz. Es gibt Schutzkonzepte, Strategiepapiere, Inklusionsrahmen, Digitalstrategien – oft klug, aber selten durchgehalten. Zwischen Beschluss und Alltag klafft eine Kluft. Was fehlt, ist Fokus. Fokus bedeutet, Wichtiges vom Dringenden zu unterscheiden. Dringend ist fast immer das, was sich öffentlich gut zeigt: Pressefotos, Hashtags, Leitlinien. Wichtig ist meist das Unsichtbare: Verlässliche Ausbildung, funktionierende Vereinsstrukturen, stille Arbeit an Vertrauen. Doch das Unsichtbare bringt keine Schlagzeilen. Es erfordert Geduld, Ausdauer, Sachlichkeit – Tugenden, die in einer Aufmerksamkeitsökonomie kaum Belohnung finden.
Gerade der Sport sollte widerstehen. Er weiß besser als jede andere gesellschaftliche Sphäre, dass Leistung nicht aus Worten entsteht, sondern aus Wiederholung, Disziplin und Teamarbeit. Ein Boot fährt nicht schneller, weil man es neu benennt. Eine Mannschaft gewinnt nicht, weil sie moralisch korrekt spricht, sondern weil sie präzise zusammenspielt. Das bedeutet nicht, dass gesellschaftliche Themen den Sport nichts angingen. Im Gegenteil: Sport kann Räume schaffen, in denen Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund zusammenkommen. Aber diese Räume müssen funktionieren. Und sie funktionieren nur, wenn jemand Verantwortung übernimmt – klar, verlässlich, jenseits von Schlagworten.
Eine Organisation, die ständig über Haltung redet, aber keine Haltung zeigt, verliert Glaubwürdigkeit. Haltung zeigt sich nicht in Dokumenten, sondern in Entscheidungen. Ein Verband, der seine Mittel lieber in Fortbildungen für Sprachsensibilität investiert als in Trainerfortbildungen, sendet ein Signal: Wir wollen recht haben, nicht wirksam sein. Die Folge ist eine schleichende Entfremdung. Viele Ehrenamtliche empfinden die neue Rhetorik als Fremdsprache. Sie verstehen die Absicht, aber nicht den Nutzen. Wenn ein Protokoll mehr Zeit braucht, um formal korrekt zu sein, als um inhaltlich richtig zu werden, ist etwas verschoben. Wenn das Wort „Gemeinschaft“ durch „soziale Kohäsion“ ersetzt wird, aber niemand mehr die Boote putzt, hat man vielleicht gewonnen – aber nichts erreicht.
Diese Entwicklung ist nicht böswillig. Sie ist das Ergebnis einer Kommunikationskultur, die Moral mit Fortschritt verwechselt. Wer den richtigen Ton trifft, gilt als modern, auch wenn er nichts ändert. So entsteht eine politische Ästhetik der Bewegung ohne Richtung. Alles klingt engagiert, aber wenig bewegt sich. Dabei weiß der Sport, wie Veränderung wirklich funktioniert. Erfolg entsteht durch Feedback, Korrektur, Wiederholung. Jede Verbesserung ist das Ergebnis von Versuch und Irrtum – nicht von Deklaration. Wenn wir das auf Organisationen übertragen, heißt das: Wir brauchen weniger Imagepflege und mehr Lernkultur. Fehler benennen, statt sie zu verdecken. Probleme anpacken, statt sie zu umschreiben.
Es wäre ein Fortschritt, wenn Sitzungen wieder damit beginnen würden, über Ziele zu sprechen – nicht über Formate. Wenn Verbände nicht zuerst fragen, wie sie wirken, sondern was sie bewirken. Wenn Sprache Mittel der Verständigung wird, nicht der Distanz.
Ein Beispiel aus der Praxis: In vielen Vereinen arbeiten ältere Ehrenamtliche, die ihr Wissen weitergeben möchten, aber sich durch neue Diskurse verunsichert fühlen. Sie wollen helfen, nicht verletzen, und ziehen sich zurück, weil sie Angst haben, etwas „falsch“ zu sagen. Damit verliert der Sport Erfahrung, Herzblut und Stabilität. Die Folge: weniger Mentoren, weniger Nachwuchs, weniger Bindung. Hier zeigt sich, wie übertriebene Sprachsensibilität in Überforderung umschlagen kann. Wer wirklich Teilhabe will, muss Brücken bauen – nicht Gräben durch Begriffe ziehen. Der Dialog zwischen Generationen, Geschlechtern und Kulturen gelingt nicht durch Normierung, sondern durch Begegnung. Ein ehrliches Gespräch, auch mit unvollkommenen Worten, ist wertvoller als jede fehlerfreie Phrase ohne Kontakt.
Was also tun? Der erste Schritt ist Priorisierung. Der Sport braucht eine klare Agenda der Wirklichkeit:
- Menschen gewinnen – Trainer, Ehrenamtliche, Schiedsrichter, Betreuer. Ohne sie ist jede Strategie wertlos.
- Infrastruktur sichern – Hallen, Plätze, Boote, Ausrüstung. Ohne Räume keine Bewegung.
- Bildung stärken – Wertevermittlung, Konfliktkompetenz, Kommunikationstraining.
- Verwaltung entlasten – weniger Bürokratie, mehr Zeit für Training und Betreuung.
- Vertrauen pflegen – zwischen Basis und Führung, zwischen Eltern und Trainern, zwischen Politik und Sport.
Diese Punkte klingen banal, aber sie sind der Kern. Sie sind unsere Säulen. Wenn sie funktionieren, wächst alles andere mit. Wenn sie vernachlässigt werden, helfen keine Leitbilder.
Der zweite Schritt ist Ehrlichkeit. Der Sport muss zugeben, dass er nicht alles gleichzeitig leisten kann. Wer alle Themen gleich wichtig behandelt, handelt beliebig. Besser klare Schwerpunkte als diffuse Korrektheit.
Der dritte Schritt ist Mut zur Unvollkommenheit. Veränderung entsteht nicht durch Angst, sondern durch Handlung. Nicht jedes Wort muss perfekt, aber jede Entscheidung muss aufrichtig sein. Fehler gehören dazu. Entscheidend ist, dass sie korrigiert werden – nicht, dass sie verschleiert werden.
Der vierte Schritt ist Vorbild. Führung im Sport bedeutet, den Blick zu heben – vom Detail zur Richtung. Ein Präsident, eine Vorsitzende, eine Trainerin prägen Kultur durch Verhalten, nicht durch Sprache. Wer ruhig bleibt, wenn Debatten laut werden, zeigt Autorität. Wer zuhört, statt sofort zu kommentieren, zeigt Stärke.
Am Ende geht es um Glaubwürdigkeit. Eine Gesellschaft, die über Worte streitet, verliert den Sinn für Taten. Ein Sport, der sich in Nebenschauplätzen verliert, verliert seine Seele. Vielleicht braucht es eine Rückbesinnung auf das Einfache: auf Fairness, Leistung, Teamgeist, Verantwortung. Werte, die keine Erklärungen brauchen, weil sie gelebt werden können. Der Kanusport kennt dieses Prinzip. Ein Boot läuft nur, wenn alle im gleichen Rhythmus paddeln. Wer sich mit dem Nachbarn über den Stil streitet, verliert Geschwindigkeit. Gleichklang entsteht nicht durch Definition, sondern durch Vertrauen. Der Sport sollte wieder paddeln, statt reden. Nicht, um Vergangenheit zu verteidigen, sondern um Zukunft zu ermöglichen. Sprache darf begleiten, aber nicht führen. Haltung zeigt sich in Bewegung, nicht in Formulierung.
Wenn wir es schaffen, die Energie von Symboldebatten in echte Veränderung zu lenken, dann gewinnt der Sport seine Kraft zurück. Nicht, weil er unpolitisch wird, sondern weil er wieder das tut, was er am besten kann: Menschen in Bewegung bringen – körperlich, sozial, kulturell.
Dann wird auch das Wort wieder seinen Sinn finden: nicht als Waffe im Meinungskampf, sondern als Werkzeug der Verständigung. Der Sport braucht kein perfektes Vokabular, er braucht klare Richtung. Und die beginnt mit einer einfachen Erkenntnis: Wichtige Themen erkennt man daran, dass sie etwas verändern. Unwichtige daran, dass sie nur darüber reden.
